OZ  |  Mittwoch, 20. Mai 2009 

Schatzmeister des Wortes

Max Goldt in der Reihe "Kempowski und Kollegen". Er spielt mit Bausteinen der Sprache, weiß aber nicht so recht, was er mit Kempowski zu tun hat. Und das in Rostock.

Rostock (OZ) Dass sich hinter dem Begriff Wortschatz tatsächlich ein Schatz verbergen kann, bewies Max Goldt vorgestern Abend in der Hochschule für Musik und Theater in Rostock.

Der Autor trat als Gast in der Lesereihe "Kempowski und Kollegen" auf, die anlässlich des 80. Geburtstages des vor einem Jahr verstorbenen Autoren ins Leben gerufen wurde und das ganze Jahr über in Rostock läuft. Der Kolumnist, Schriftsteller und Musiker Goldt las vor ausverkauftem Saal einige Kurzgeschichten, die er selbst als Oldies und Newies bezeichnete. Aber warum genau er zu der Ehre kam, im Namen Kempowskis zu lesen, nun ja. "Ich weiß selbst nicht so genau, warum ich in dieser Reihe auftrete", sagt Goldt. Er wurde als großer Verehrer Kempowskis angekündigt, beichtete aber, dass es wohl nur einen einzigen Bezugspunkt zu dem Rostocker gebe. Einer seiner Texte entstand 1996. In dem Jahr, als Goldt den "Kollegen" Kempowski das erste Mal traf. "Insgesamt waren es wohl drei Mal", bemerkt Goldt und fügt nachdenklich hinzu: "Vielleicht werde ich darüber noch schreiben." Bis es soweit ist, begnügt sich das Rostocker Publikum mit vorhandener Poesie. 99 Jahre kann der Mensch ohne Liebe auskommen, ohne Wasser wesentlich kürzer. Es soll Leute geben, die sich in tiefster Not ein Auge ausgerissen haben, um ihren unerträglichen Durst zu stillen. Goldt erzählt davon, was das Leid der Liebe mit ausgerissenen Augen zu tun hat, wie es kommt, dass Knochen sammelnde, japanische Germanisten Interesse an einer Schöneberger Gräberin haben – Goldt wandert in seinen Texten – über bunte Wiesen und Felder der Geschichtenlandschaft, schlägt Haken und landet am Ende immer dort, wo man es zuletzt erwartet hätte. Er fantasiert, fabuliert und überrascht.

Nicht nur inhaltlich. Durch eine ungewöhnliche Komposition von sprachlichen Elementen schafft er es, ganz neue Bilder vor dem geistigen Auge des Zuhörers entstehen zu lassen. So heißt es: "Bei diesem Wein wünschte ich, ich hätte den Hals einer alten Kirchentreppe. Die abgelaufenen Stufen bieten viel Platz für Füllmenge." Er jongliert mit Bausteinen der Sprache, experimentiert mit ihnen und setzt sie gekonnt wieder zusammen. Da packt einen der pure Neid und die diebische Lust, dem Autor seinen Schatz an Worten und Sätzen zu entreißen und sich selbst Kopf und Mund damit zu füllen. Goldt ist nicht nur als Autor Gold wert. Dass ein Schriftsteller literarisches und schauspielerisches Talent hat, kommt selten vor. Gott sei Dank ist Goldt eine Ausnahme. Den ödipalen Sohn gibt er ebenso gut wie die freibusige Grabräuberin oder den um seine Zahnpasta kämpfenden Fluggast. So entsteht lebendige Literatur, im geschriebenen wie im gesprochenen Wort. Sollte Goldt tatsächlich eine Kurzgeschichte über Kempowski verfassen, ist zu hoffen, dass er sie selbst vorträgt.
Lesung: 9. Juli, 19.30 Uhr HMT Benjamin von Stuckrath-Barre: "Alkor".

ANIKA DRESSLER

 


Max Goldt bei seiner Lesung in der Rostocker Hochschule
für Musik und Theater.
Foto: F. Hormann/Nordlicht