NNN  |  Freitag, 15. Mai 2009 

Chronik der Deutschen

Blick in Walter Kempowskis Archiv

300 000 Fotografien und 8000 biografische Dokumente lagern im Berliner Kempowski-Archiv. Einen Querschnitt zeigt die Ausstellung „Chronik der Deutschen“, die gestern in Rostock eröffnet wurde.

Anke Rutkowski

Rostock Walter Kempowski selbst gab den Anstoß. Im Mai 2007 schrieb der damals schwerkranke Schriftsteller eine Postkarte an Katrin Möller-Funck. Die Leiterin des Kempowski-Archivs in Rostock erinnert sich: "Es wäre doch schön", stand auf der Karte, "wenn die großartige Ausstellung auch in die Hansestadt kommen kann." Gemeint war die umfangreiche Schau "Kempowskis Lebensläufe", die die Akademie der Künste 2007 am Pariser Platz in Berlin zeigte. Gestern ist der Wunsch des verstorbenen Schriftstellers in Erfüllung gegangen. Bis zum 12. Juli zeigt das Kulturhistorische Museum in Rostock einen Teil der damals ausgestellten Werke.

Seit 1980 sammelt Walter Kempowski Fotos, Briefe, Tagebücher, Lebensläufe – auf Flohmärkten, über Zeitungsanzeigen. Das durch Krieg und Haft Verlorene wollte er zurückgewinnen, rekonstruieren, literarisch gestalten.

Seit 2005 betreut die Akademie der Künste die zusammengetragenen Schätze, die 500 laufende Meter Regal füllen. Mindestens 300 000 Fotografien lagern dort. 700 von ihnen sind jetzt in Rostock zu sehen, aufgereiht in zwei Räumen. "Ich wollte durch Quantität überzeugen", sagt Dr. Hans-Joachim Bretschneider. Ehrenamtlich betreut er Kempowskis Fotoarchiv in der Akademie der Künste. Ein halbes Jahr habe es gedauert, die Aufnahmen zusammenzustellen. Das Ergebnis bezeichnet er als "sehr subjektiv".

Die ältesten Fotos stammen von 1870, die jüngsten wurden rund 100 Jahre später aufgenommen. Im Urlaub, bei Familienfeiern, bei der Arbeit. Sie zeigen Porträts, Menschengruppen, Massen. Vor und hinter der Kamera stehen "normale" Bürger. "95 Prozent kommen aus Fotoalben", so Bretschneider. Zum Teil sind die Bände beschriftet, datiert, lokalisiert. Für den Betrachter der Ausstellung bleiben alle Gesichter anonym. Die Vielfalt stehe im Vordergrund, nicht das einzelne Werk. Die im Original oft wenige Zentimeter hohen Bilder wurden für die Schau auf größere Bögen kopiert. Wie die Fragmente in dem Werk "Echolot" fügen sie sich im Montageprinzip zusammen.

Eine Ruhepause im Strom der Bilder bietet der Raum im Zentrum der Ausstellung. Auf Sitzpolstern, gern auch mit geschlossenen Augen, können Besucher Textcollagen zum 1. Januar 1943 aus dem "Echolot" hören. 170 Minuten, gelesen von 75 Mitgliedern der Akademie der Künste.

Mit erholten Augen kann sich der Besucher anschließend wieder dem Stöbern widmen. Vitrinen geben einen Einblick in Kempowskis Biografienarchiv. An großen Schubladen prangen Schlagworte, die der Schriftsteller für seine systematische Erschließung des Materials gewählt hatte. Schwerpunkt bilden Themen wie Flucht, Vertreibung, Emigration und Krieg. Aber auch Alltägliches ist zu finden – zum Thema Bildung, Reisen oder Liebe. Etwa 200 der rund 8000 biografischen Dokumente des Archivs werden gezeigt – Briefe, Kinderzeichnungen, Schulzeugnisse, Poesiealben, Fahrkarten. Von Menschen jeden Alters, in verschiedensten Lebenslagen. Manchmal erlauben die Dokumente auch Einblicke in das Wirken bekannter Persönlichkeiten. Zum Beispiel das Tagebuch der deutschen Arktisexpedition im Jahr 1912.


Dr. Hans-Joachim Bretschneider in der Ausstellung mit Fotos
aus der Sammlung von Walter Kempowski - im
Kulturhistorischen Museum im Kloster zum Heiligen Kreuz.
Foto: Georg Scharnweber