OZ   |  Samstag, 09. Juli 2009  |  Kultur

Ein Spiel verwandter Seelen

In Rostock präsentierten Benjamin von Stuckrad-Barre und Matthias Kirschnereit eine musikalisch-literarische Collage mit Kempowski-Texten.

Von TH. CZARKOWSKI
Rostock (OZ) "Gut gemacht, Rostock" – dies setzte Benjamin von Stuckrad-Barre an den Beginn seiner Lesung. Ein wenig Ironie steckte da schon drin, denn der Vortragende nahm Bezug auf die Straßenumbenennung zum 80. Kempowski-Geburtstag: "eine kleine Straße für den größten Sohn der Stadt", so Stuckrad-Barre.

Die Grundstimmung des Abends blieb heiter und gelöst. Am Klavier saß mit Matthias Kirschnereit ein frischgebackener Echo-Preisträger, er sollte den Abend zu gleichen Teilen mittragen. Denn da war eine große Vertrautheit zwischen den beiden Protagonisten zu spüren, schließlich hatten sie bis kurz vor der Veranstaltung zusammengesessen, um den musikalisch-literarischen Abend zu collagieren. Mit dieser Puzzletechnik griffen Stuckrad-Barre und Kirschnereit auf eine Form zurück, mit der Walter Kempowski gern gearbeitet hatte – im "Echolot" perfektioniert. Beim Zusammenfügen der Einzelteile basierte der Textvortrag auf dem "Alkor"- Tagebuch, das Walter Kempowski 1989 verfasst hatte. Matthias Kirschnereit brachte eine ganze Palette von stilistisch unterschiedlichen Musikstücken ins Spiel, zum Beispiel Brahms, Bach, Chopin, Debussy bis Rachmaninow. Der Musikeinsatz schien intuitiv oder stimmungsabhängig zu erfolgen, im Wechsel von Wort und Musik wertete man sich gegenseitig auf. Für ein solches Puzzle waren Kempowskis schnipselartige Tagebucheinträge wie gemacht. Ein musikalisch-literarisches Gesamtprodukt, mit dem man sich um den "Hörspielpreis der Kriegsblinden" bemühen wolle, wie Stuckrad-Barre launig anmerkte.

Walter Kempowski und Benjamin von Stuckrad-Barre? Hier tat sich das zweite interessante Spannungsfeld des Abends auf. Die beiden kannten sich schon seit den 1990er Jahren, als Stuckrad-Barre noch Seminarteilnehmer bei Walter Kempowski in Nartum war. Eine gewisse Seelenverwandtschaft zwischen den beiden war deutlich zu spüren, wenn Stuckrad-Barre als Rezitator den trockenen Humor von Walter Kempowski zum Leben erweckte.

Das "Alkor"-Tagebuch ist eine Sammlung von Erinnerungsfetzen, die langsam ansteigend die großen Ereignisse des Jahres 1989 kommentieren. Dazu gehören auch jene privaten Passagen, in denen Kempowski seine dunkleren Stunden reflektiert, wenn er "Lebensekel" empfand oder sich als ein "Heimatvertriebener" fühlte. Dazu kam zum Beispiel auch Kempowskis Verbitterung über die Ignoranz der Goethe-Institute. Herrlich aber seine humorigen Schilderungen über ungebetene Besucher in Nartum, als ihn zum Beispiel im Januar 1989 eine "Psychopatin aus Rostock" aufsuchte. Diese Schilderungen zeigen den Alltag Walter Kempowskis, der ein ewiger Kopfschüttler blieb. Aber auch einer mit stillem Humor: "Was nützt es, dass ich gute Laune habe, wenn’s niemand merkt?"

Am Donnerstagabend gab der Innenhof der Hochschule für Musik und Theater ein würdevolles Ambiente für das Erinnern an einen großen Rostocker. Die Musik emotionalisierte zusätzlich: Das Spiel von Matthias Kirschnereit riss das Publikum immer wieder zu spontanem Applaus hin.

Und am Ende gab es noch eine sehr rührende Geste, als Benjamin von Stuckrad-Barre hinunter ins Publikum stieg und seinen Blumenstrauß an Hildegard Kempowski weiterreichte. Die Witwe des Schriftstellers war gerührt und auch mit der Lesung zufrieden. "Sehr liebevoll ausgesucht", freute sie sich. Denn Rostock ist für sie weiterhin ein lohnendes Reiseziel. "Wenn es überhaupt mal von Nartum weggeht, dann nach Rostock", so Hildegard Kempowski.


Gut aufgelegt: Benjamin von Stuckrad-Barre las
am Donnerstagabend Kempowski-Texte in der
Hochschule für Musik und Theater.
Foto: Frank Hormann