Zum Inhalt des neuen Bandes:
Torsten Voß/Stephan Lesker (Hg.): Effekte der Mehrdeutigkeit: Konvergenzen des (autobiographischen) Erzählens zwischen Fakt und Fiktion bei Walter Kempowski (Spatien 7)
In Kempowskis kollektivem Tagebuch Echolot findet sich im vierten Band des ersten Teils das Bild einer Hochzeitsgesellschaft. Wem die Menschen auf diesem Foto nichts sagen, dem hilft die Bildunterschrift weiter: Es handelt sich um die Familie Kempowski. Sofort fällt ins Auge, dass die Personen nicht einfach mit ihrem Namen bezeichnet sind. Die Benennungen sind relationaler Natur: Vater, Großvater, Mutter, Schwester Ulla. Nur ein einziger Name kommt ohne solche verwandtschaftsanzeigenden Nomen aus: Walter. Damit wird deutlich, wer die maßgebende Person in diesem Bild ist. Der Bogen zum namensgleichen „Autor“ des Echolot, der sich hier in sein Werk einschreibt, ist damit geschlagen. Aber es geschieht noch mehr. Natürlich ist dieses Bild auch ein Brückenschlag zwischen der Fiktion (der Deutschen Chronik) und der Wirklichkeit (der das Echolot durch seinen Kollektivitätsgedanken nahe kommen möchte). Nicht nur, dass hier eine Begebenheit dargestellt ist, die in Tadellöser & Wolff erzählt wird, die Verbindung zwischen Fakt und Fiktion ist sogar im Bild und in seiner Unterschrift selbst präsent. Ullas Mann wird dort nämlich „Schwager Sven“ genannt. Er behält somit seinen Namen aus der Chronik. Im Kontext des Echolots spräche aber nichts dagegen, „Sven“ auch mit seinem richtigen Namen Ib Kai-Nielsen zu benennen. Dass Kempowski dies nicht tut, ist ein Verweis darauf, dass er gezielt und werkübergreifend eine Poetologie der Mehrdeutigkeiten für seine Texte entwirft. Freilich werden dabei mitunter die Grenzen zwischen den autobiographischen, historischen und fiktiven Narrativen unmerklich verwischt und ergeben die stilistische und kompositorische Eigenart von Kempowskis Werk, die durch die versammelten Aufsätze schlaglichtartig beleuchtet werden soll.
Torsten Voß betrachtet in seinem Beitrag den Roman Tadellöser und Wolff als Erzählexperiment, in dem individuelle Familiengeschichte als Zeitgeschichte lesbar und über Modi des Fingierens erfahrbar gemacht wird. Diese Modi des Fingierens stellt auch Stefan Tuczek ins Zentrum seiner Betrachtung, indem er nach der biografischen Legende fragt, die sich Kempowski durch gezielte Inszenierungen seiner Person in der Öffentlichkeit schaffen wollte. Seine Figur Alexander Sowtschick erscheint da nur wenig kompatibel, da sie als eine Art „Bad Boy“ nicht so recht zur sonstigen Inszenierung Kempowskis passen will. Genau hier setzt der Beitrag von Anna Brixa an. Sowtschick wird als Figur gelesen, in die Kempowski alles das auslagerte, was anrüchig oder gesellschaftlich nicht akzeptiert ist. Er kann als Ventil für all das gelesen werden, was Kempowski vor dem Blick der Anderen verschleiern wollte. Dass dieser Blick der Anderen eine Konstante in Kempowskis OEuvre ist, stellt Stephan Lesker fest. Er geht dabei vom Roman-Erstling Im Block aus und legt dar, dass dieser Text gezielt Situationen einsetzt, in denen der Blick der Anderen (bspw. Mitäftlinge) zur Selbstkonfigurierung des Ich-Erzählers eine immens wichtige Rolle spielt. Wenn dieser Blick nun aber konstitutiv für Kempowskis Werk ist, so kann auch angenommen werden, dass es in seiner Werkstiftung auch Berührungspunkte zu anderen SchriftstellerInnen gibt. Diesem Sachverhalt widmen sich die beiden nächsten Beiträge. Franziska Stürmer betrachtet in ihrem Aufsatz den Roman Aus großer Zeit dezidiert als Familienroman. Als Vergleichsgröße wählt sie die oft als Prototyp dieser Gattung wahrgenommenen Buddenbrooks von Thomas Mann. Anna-Marie Humbert widmet sich der Erinnerungsarbeit Kempowskis und vergleicht sie mit den Romanen Peter Kurzecks. Gerade das Verwischen von Fakt und Fiktion sowie die Krisenerfahrung als Ausgangs- und Kulminationspunkt sind für Kurzeck wie für Kempowski charakteristisch. David Schmiedel geht diesem Verwischen von Fakt und Fiktion im Echolot auf den Grund, indem er zunächst die vielen Arten der von Kempowski verwendeten Quellen auflistet und analysiert.
Der Beitrag von Carolin Krüger, der retrospektiv die Entstehung des Literarischen Lesebuches Walter Kempowski für Schulen in Mecklenburg-Vorpommern vorstellt, schließt die Aufsätze ab. Dabei werden Konzeption und Aufbau des Buches genau beschrieben.
Natürlich darf in den Spatien auch ein Text aus dem Archiv nicht fehlen. Den Band beschließt daher der zweite Teil der Lebenserinnerungen Robert Kempowskis, die von seinem Bruder in den 1960er Jahren aufgezeichnet wurden.
 
 
 
„Die Spatien 7“ (€ 20)
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